Corona-Impfungen im Freistaat: Sachsen macht Ausnahmen bei Impfkategorien
“Älteste zuerst!” heißt es laut Corona-Impfverordnung. Ausnahmen bestätigen in Sachsen diese Regel. Immer dann, wenn Impf-Termine nicht wahrgenommen werden.
Von Insa van den Berg
Wenn Impfdosen weggeworfen werden müssten, werden in Sachsen zum Ende eines Tages auch Personen geimpft, die laut der Corona-Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums nicht an erster Stelle stehen. “Das ist der Fall, wenn Spritzen bereits aufgezogen worden sind und der Inhalt sonst verderben würde”, erläutert Dr. Kai Kranich vom Landesverband Sachsen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) das Vorgehen. Der Wohlfahrtsverband ist vom sächsischen Sozialministerium mit dem Aufbau und Betrieb der Impfzentren beauftragt worden.
Gelegentlich komme es vor, dass vereinbarte Termine zur Corona-Impfung nicht eingehalten würden. Bei den Absagen oder dem Nicht-Erscheinen handele es sich um Einzelfälle im einstelligen Bereich, sagt DRK-Pressesprecher Dr. Kai Kranich. Dann würden zum Beispiel Angehörige von Polizei, Feuerwehr oder ehrenamtliche Rettungskräfte aus Kategorie 2 bei der Impfung vorgezogen.
Seit dem 27. Dezember 2020 werden Menschen in Sachsen geimpft, zunächst in Kliniken und durch mobile Teams in Pflegeeinrichtungen, seit vergangenem Montag in den 13 Impfzentren. Laut der Corona-Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums werden zuerst Bewohner in den Pflegeeinrichtungen, über 80-Jährige sowie diejenigen geimpft, die sich um diese Menschen kümmern.
Die Zahl der Impfwilligen in Sachsen empfindet DRK-Pressesprecher Dr. Kai Kranich als sehr hoch. Es gebe eine große Nachfrage aus anderen Bevölkerungsgruppen, die sich schnellstmöglich impfen lassen wolle. “Ich rate jedoch dringend davon ab, sich ohne Termin vor einem Impfzentrum aufzuhalten – in der Hoffnung, spontan eine Dosis zu bekommen.” Ariane Moor vom DRK-Kreisverband Leipzig-Stadt sagt: “Bei uns kommt eh niemand ohne Termin auf das Gelände des Impfzentrums.”
Nach Angaben des Robert Koch-Instituts haben in Sachsen bisher knapp 35.000 Menschen eine Impfung erhalten, fast 28.000 davon aus beruflichen Gründen (Stand: 14.1.2021, 16 Uhr).
Pro Tag sollen laut der Sächsischen Staatsregierung bis zu 13.000 Bürger in Sachsen geimpft werden können. Im Vergleich zu den anderen Bundesländern gibt es in Sachsen nach Thüringen die meisten Covid-19-Fälle (Stand: 13.1.2021, 0 Uhr).
t-online.de, 14. Januar 2021
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“Mehr hören als reden”
Expertinnen fordern, angehende Mediziner besser auf Gespräche im Klinikalltag vorzubereiten
Das Gespräch zwischen Arzt und Patient ist im Medizinstudium ein Thema. Aber es gibt Verbesserungsbedarf. Kritikerinnen meinen: Derzeit sei die Kommunikationsausbildung ein “Tropfen auf den heißen Stein”.
Von Insa van den Berg
Es kann ein Krebsbefund sein oder eine schwere Herz-Kreislauf-Erkrankung: Ärzte müssen regelmäßig mit ihren Patienten Diagnosen besprechen, die für diese existenziell sind. An der Universität werden die künftigen Ärzte zwar auf solche Situationen vorbereitet. Dennoch sind viele Patienten unglücklich mit dem Verlauf von Arztgesprächen, zeigen Untersuchungen des BQS Instituts für Qualität und Patientensicherheit zwischen 2017 und 2019.
Das Medizinstudium muss “Gesichtspunkte ärztlicher Gesprächsführung” beinhalten; so steht es in der Approbationsordnung, die den Rahmen für die medizinische Ausbildung in Deutschland vorgibt. Nach dem “Praktischen Jahr” in einem Krankenhaus sollen die Studierenden in einer mündlichen Prüfung unter Beweis stellen, dass sie sich der Situation entsprechend zu verhalten wissen. Oft müssen die Prüflinge dabei Patienten befragen, untersuchen und im Anschluss einen Bericht schreiben. Das könne als indirekte Prüfung der Kommunikationsfähigkeiten gewertet werden, meint Corinne Dölling vom Medizinischen Fakultätentag, dem Verband der Medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Deutschlands. Aktuell gebe es allerdings “wenig konkrete Vorgaben zur Medizinethik”. Im Fach “Medizinethik” geht es um das ethische Denken und Verhalten beim Behandeln von Patienten.
Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient habe in der Ausbildung bereits an Bedeutung gewonnen, sagt Tobias Löffler, Bundeskoordinator für Medizinische Ausbildung in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland. Fast überall sei das Thema etabliert. An vielen Universitäten gebe es engagierte Lehrende und sogenannte OSCEs (objective structured clinical examination), die die klinische Kompetenz prüfen. Dort werden vor allem praktische Fähigkeiten geübt wie “Rezepte ausstellen” oder “einen venösen Zugang legen” – aber auch die “Arzt-Patient-Kommunikation”.
Eine Ausbilderin ist Swetlana Philipp vom Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikums Jena. Ihrer Meinung nach ist die Kommunikationsausbildung “ein Tropfen auf den heißen Stein”. Im zweiten Studienjahr werde psychologisches Grundwissen vermittelt und es würden fordernde Gesprächssituationen praktisch mit Schauspiel-Patienten geübt. “Das ist sehr früh im Studium, denn bis dahin haben die Studierenden kaum Patientenkontakt. Besser wäre, es gäbe weitere aufbauende Kurse während der klinischen Phase des Studiums.”
Die Realität in Praxen und Krankenhäusern sei für viele Studierende ein Schock, hat Gertrud Greif-Higer beobachtet, geschäftsführende Ärztin des Ethikkomitees der Universitätsmedizin Mainz. Die angehenden Mediziner müssten sich verstärkt mit den Grenzen ihrer Disziplin auseinandersetzen. “Wir können extrem viel behandeln, aber wir sollten akzeptieren, dass wir auch Hoffnungen enttäuschen müssen.” Zudem fehle oft die Zeit für gute Gespräche, weil sie nicht entsprechend vergütet würden.
Marianne Rabe, bis zum Beginn ihres Ruhestandes in diesem Jahr Geschäftsführerin der ehemaligen Charité Gesundheitsakademie Berlin, sagt: Man könne auch mit wenig Zeit gute Gespräche führen, wenn man den Patienten als Mensch wahrnehme und möglichst im Team kommuniziere. Ihre Kürzest-Empfehlung für medizinisches Personal lautet “mehr hören als reden”.
Künftig könnte die Kommunikation mit Patienten und Patientinnen einen höheren Stellenwert in der Ausbildung von Medizin-Studierenden erhalten. Das steht nach Angaben der Bundesärztekammer zumindest in einem Arbeitsentwurf zu einer neuen Approbationsordnung für Ärzte, den das Bundesgesundheitsministerium Ende 2019 vorgelegt hat. Wegen der Corona-Pandemie verzögere sich allerdings die Weiterentwicklung des Papiers. Es sei aber davon auszugehen, “dass noch in diesem Jahr das übliche Anhörungsverfahren erfolgen wird”, teilte ein Ministeriumssprecher dem Evangelisches Pressedienst (epd) mit.
Marianne Rabe und Swetlana Philipp vom Universitätsklinikum Jena empfehlen darüber hinaus, dass Gesprächsführung auch berufsbegleitend eine Rolle spielen sollte – in Form von Beratungen und Fortbildungen mit Trainings. “Die Ärztekammer könnte das Absolvieren auch in diesem Bereich mit Fortbildungspunkten verpflichtend einführen”, schlägt Rabe vor.
Evangelischer Pressedienst, 24. November 2020
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Handel im Wandel
Nachhaltige Verpackungen, langlebige Materialien, faire Produktionsbedingungen, klimafreundliches Kaufverhalten – darauf setzen immer mehr Kunden. Wie reagieren die Händler?
Von Insa van den Berg
Egal, ob Kosmetik, Textilien oder Lebensmittel – die Mehrheit der Bundesbürger will nach Möglichkeit nachhaltige Produkte kaufen. Das hat unter anderem eine diesen Sommer veröffentlichte Studie der privaten Fachhochschule IUBH aus Bad Honnef ergeben. Danach sprachen sich 70 Prozent der mehr als 2000 Befragten dafür aus, einen klimafreundlicheren Lebensstil zu pflegen und dafür mehr regionale und nachhaltige Produkte zu kaufen. Besonders nachhaltige Lebensmittel bewegten sich dabei aus der Nische heraus, in der andere Angebote noch immer feststeckten, weil etwa der Aufwand zu groß sei, sagt Prof. Stefan Schaltegger, Wirtschaftswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeitsmanagement an der Leuphana-Universität Lüneburg. Schwierig sei das Thema Nachhaltigkeit beispielsweise bei Porzellan, Rasierapparaten und Staubsaugern.
Nachhaltige Entwicklung ist nach der Festlegung der Vereinten Nationen eine „Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Um das zu gewährleisten gilt es, je nach Produkt unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen: Bei Textilien ist das nachhaltige Produzieren aufgrund der Materialien und der Masse besonders schwierig, bei Elektronikartikeln gibt es wegen der Ressourcengewinnung meist eine komplizierte Lieferkette. Bei Autos hapert es oft an der wenig nachhaltigen Nutzung und bei Verbundstoffen wie Tetrapacks liegen die Probleme vor allem beim Entsorgen.
Man müsse schauen, wie und wo produziert werde, sagt Nachhaltigkeitsforscher Schaltegger. Siegel wie der „Blaue Engel“, „EUBio“ oder „Fairtrade“ bieten Käufern dabei Orientierung. Einige Händler bieten zudem ausschließlich als „Fair Wear“ oder „Gots“ zertifizierte Mode an. Wer sich bei ihnen im Laden umschaut, kann also sicher sein, dass für das Herstellen der Bekleidung neben wirtschaftlichen auch soziale und umweltschützende Aspekte eine Rolle gespielt haben.
Ein Großteil der Bevölkerung habe verstanden, dass „wir nicht stehen bleiben können. Gerade jüngere Menschen wollen durch ihr Einkaufsverhalten lenken“, sagt Michael Spandern von der Rainforest Alliance Deutschland. Der Verbund aus land- und forstwirtschaftlichen Erzeugern, Unternehmen und Verbrauchern setzt sich für fairen Handel und Verbesserungen bei Produktionsstandards ein. Und das auf globaler Ebene. Denn am Herstellen und Vertreiben etlicher Güter sind Menschen weltweit beteiligt.
Nehmen wir beispielsweise ein Herrenhemd: Nach Angaben des Gesamtverbands der deutschen Textil- und Modeindustrie durchläuft es bei der Herstellung etwa 140 Stationen weltweit. Mittelständische Unternehmen pflegten über lange Zeit gewachsene Geschäftsbeziehungen zu ihren Lieferanten oder hätten in den Produktionsländern eigene Standorte, an denen sie fertigten, heißt es zur Begründung.
Gerade in der Textilindustrie sehe sie große Fortschritte im Bereich Nachhaltigkeit, sagt Antje Gerstein, Geschäftsführerin Europapolitik beim Handelsverband Deutschland. „Es ist ein Spagat, die ganz stark von Verbrauchern nachgefragte Nachhaltigkeit über alle Einkommensschichten hinweg anzubieten“, betont Gerstein.
Für den Möbelriesen Ikea ist laut einer Sprecherin klar, „dass Nachhaltigkeit keine Frage des Geldbeutels sein darf – sie muss für die vielen Menschen erschwinglich sein.“ Ikea habe das Ziel, bis 2030 klimapositiv zu werden und mehr Treibhausgasemissionen zu reduzieren, als die Wertschöpfungskette verursacht, heißt es aus der Deutschlandzentrale.
Die Möbelbranche habe Umwelt- und Ressourcenschonung von der Beschaffung bis zur Verarbeitung im Fokus, teilt der Verband der Deutschen Möbelindustrie mit. Zudem gehe es um den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Beschäftigten.
„Wenn wir über Nachhaltigkeit im Einzelhandel sprechen, dann meinen wir ja nicht nur die Produkte, sondern auch die Logistik und die Geschäfte“, sagt Nachhaltigkeitsexperte Schaltegger. Also müsse auch beim Transport, beim Verkauf oder Versand nachhaltig gewirtschaftet werden.
Inzwischen böten viele Händler ihren Kunden Entscheidungsmöglichkeiten, sagt Antje Gerstein: im Onlinehandel zum Beispiel für eine umweltgerechtere statt der konventionellen Verpackung oder auf Wunsch eine kohlenstoffdioxidneutrale Lieferung. Es sei ein Balanceakt, die Verbraucher in Richtung Nachhaltigkeit zu schubsen und sie dennoch nicht zu sehr zu bevormunden.
Versandhändler Amazon arbeitet eigenen Angaben zufolge daran, bis 2030 die Hälfte aller Lieferungen „CO2-neutral zuzustellen – vom Versandzentrum, in dem ein Artikel aus dem Regal genommen wird, über die Materialien, die zur Verpackung des Artikels verwendet werden, bis hin zu den Fahrzeugen, die das Paket ausliefern.“
Nach einer Logistikstudie des Händlerbunds von 2019 fühlen sich Onlinehändler zunehmend der Nachhaltigkeit verpflichtet. 42 Prozent der über 500 Befragten legten „großen Wert auf die Nachhaltigkeit der Verpackung“, 44 Prozent gaben an, dass ihre Verpackung bereits nachhaltig sei. Dennoch beeinflussten der Preisdruck und das Kundenverhalten weiterhin stark das Geschäft, sagt Andreas Arlt, CEO beim Händlerbund: „Um die Ziele erreichen zu können, setzen wir auch auf die Bereitschaft der Kunden, sich für innovative Logistikprozesse zu öffnen und mit uns an einem Strang zu ziehen.”
Das steckt hinter dem geplanten Lieferkettengesetz
Mit dem sogenannten Lieferkettengesetz wollen Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) deutsche Unternehmen dazu verpflichten, ihre ausländischen Zulieferer auf das Einhalten von sozialen und ökologischen Mindeststandards zu überprüfen. Deutsche Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern „müssen künftig prüfen, ob sich ihre Aktivitäten nachteilig auf die Menschenrechte auswirken“, heißt es in den Überlegungen für ein Sorgfaltspflichtengesetz. Gemeint sind damit zum Beispiel Kinderarbeit, fehlende Arbeitssicherheit, unzureichende Löhne, illegale Abholzung, Pestizidausstoß, Wasser- und Luftverschmutzung. „Die wahren Kosten für die Umwelt und den Menschen sind nicht eingepreist“, sagt Cara-Sophie Scherf vom Öko-Institut. „Unser Wirtschaften hat Folgen in anderen Ländern, auch wenn das für die Verbraucher hier nicht immer unmittelbar zu erleben ist.“ Ausbeutung dürfe nicht profitabel sein.
Wer gegen die Grundrechte verstößt, kann laut der Eckpunkte für das Gesetz vor einem deutschen Gericht auf Schadensersatz verklagt werden. Haften soll ein Unternehmer, wenn die Verstöße vorhersehbar und vermeidbar waren. Hat die Firma jedoch alles zur Einhaltung unternommen und kommt es dennoch entlang der Lieferkette zu Problemen, soll sie nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Die Bundesregierung setzt bislang darauf, dass sich Unternehmen freiwillig an menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Umweltstandards halten. Ob aus den Eckpunkten ein Gesetzentwurf entsteht und wann dieser beschlossen wird, ist unklar. Es könnte auch eine europäische Regelung geben.
Redaktionsnetzwerk Deutschland, 10. November 2020
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„Jeden Tag sitze ich vor Menschen, die Angst haben“
Wenn Mediziner schlechte Nachrichten überbringen müssen
Patienten sind geschockt, Ärzte überfordert: Vieles kann schiefgehen, wenn es um die Übermittlung einer ernsten Diagnose geht. Besondere Sensibilität ist bei lebensbedrohlichen Erkrankungen gefragt.
Von Insa van den Berg
Der Arzt sagte über den Verlauf der Operation zu seinem Patienten, es sei alles gut gelaufen. Es könne aber sein, „dass Ihre Milz entfernt wurde. Das steht zwar nicht im OP-Bericht, aber auf dem CT fehlt ein Organ.“ Es sind Geschichten wie diese, die Marianne Rabe von der Charité Universitätsmedizin Berlin die Kinnlade herunterklappen lassen. Etliches habe sich in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten verbessert und dennoch hört die pädagogische Geschäftsführerin der Charité Gesundheitsakademie immer wieder von solch misslungenen Gesprächen. Patienten sind geschockt, Ärzte überfordert.
Geht es um die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit, ist besonders viel Sensibilität gefragt. Bettina Sandritter aus dem baden-württembergischen Mühlacker ist Fachärztin für Krebserkrankungen und täglich damit konfrontiert. Das sei ein Moment, der beide Seiten belastet, erzählt die Onkologin: Jeden Tag sitze sie vor Menschen, die Angst haben.
Nachdem sie ihnen die Diagnose mitgeteilt habe, wollten etwa zwei Drittel ihrer Patientinnen und Patienten von Bettina Sandritter genau wissen, was los sei. Andere reagierten wütend, verärgert, weil sie mit einer traurigen Wahrheit nicht zurechtkämen. Sie kämpften mit dem Gefühl, etwas aufgeschoben und nun versäumt zu haben. „Mit Angehörigen ist das Gespräch oft sogar noch schwieriger, weil sie ihre Lieben schützen und manche selbst bei einem Über-80-Jährigen den nahenden Tod nicht wahrhaben wollen.“
Patientenbefragungen des Picker-Instituts in Krankenhäusern zwischen 2017 und 2019 zeigen, dass viele Menschen unglücklich mit dem Verlauf von Arztgesprächen sind. Knapp 30 Prozent der etwa 32.000 Befragten gaben an, dass ihnen die Ergebnisse von Untersuchungen nicht oder nur einigermaßen verständlich erklärt wurden. Mehr als jeder Dritte von etwa 51.000 Befragten konnte seine Ängste mit Ärztinnen und Ärzten nicht ausreichend besprechen. Zugleich geben Patienten an, dass ihnen ein gutes Verhältnis zum Arzt das Wichtigste sei. Es geht um Vertrauen.
Wenn diese Vertrauensbasis fehlt, werden die Heilungschancen geringer, erklärt Swetlana Philipp vom Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikums Jena. Die Patienten könnten sogar die Therapie ablehnen. „Einige verbringen dann ihre restliche Zeit damit, Zweit- oder Drittmeinungen einzuholen“, berichtet die Onkologin Bettina Sandritter. Dabei verrinne ihre Lebenszeit in großer Unruhe – „das Letzte, was man in so einer Situation gebrauchen kann“.
Das Recht auf Selbstbestimmung der Patienten sei größer geworden, erläutert Dominik Groß vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Aachen. Er erklärt, dass Ärzte heutzutage viel umfassender aufklärten und den Willen des Patienten stärker achteten. Früher hingegen entschied nur der Arzt, was das Beste für den Kranken sei. „Einige können es kaum aushalten, wenn der Patient etwas anderes will als sie“, beobachtet aber die Ethikberaterin Marianne Rabe von der Charité Universitätsmedizin Berlin.
Ein besonderes Problem beim Überbringen schlechter Nachrichten: Laut Medizinethiker Dominik Groß sind sich nicht alle Ärzte bewusst, dass sie sich in Fachsprache und damit oft unverständlich ausdrücken. „Es gibt allerdings auch eine Bringschuld des Patienten, nachzufragen“, sagt er. Vor allem jedoch der Zeitdruck in Kliniken und Praxen führe dazu, dass Gespräche fehlschlügen.
Viele Inhalte müssten in wenigen Minuten vermittelt werden, sagt Gertrud Greif-Higer, geschäftsführende Ärztin des Ethikkomitees der Universitätsmedizin Mainz. Solche Gespräche seien fachlich und psychologisch schwer, ihre Vergütung aber extrem gering. „Das Bezahlsystem ist ein Spiegel dessen, was wir schätzen. Die sprechende Medizin hat in unserem Alltag also einen geringen Stellenwert.“ Zu gering, wie sie findet. Stattdessen verwiesen manche Ärzte an Seelsorger und wälzten damit eine ihrer Kernaufgaben ab.
Vielen Medizinern graue es vor Tränen, sie seien hilflos, weiß Marianne Rabe: „Sie trauen sich solche Gespräche nicht zu.“ Das sei belastend, ließe sich aber ändern: Hilfreich seien für Ärzte und Pflegepersonal Aus- und Fortbildung in Kommunikation.
Evangelischer Pressedienst, 22. Oktober 2020
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Verstörende Beichten
Aussteiger aus der rechtsextremen Szene halten Vorträge an Schulen – doch ist das ratsam?
Ehemalige Rechtsextremisten sprechen vor Schulklassen über ihren Ausstieg aus der Szene. Lehrer hoffen, auf diesem Weg anschaulich und nachhaltig Demokratiefeindlichkeit in der Schülerschaft vorzubeugen. Inwiefern das gelingen kann, ist aber bisher unklar. Denn wissenschaftlich fundierte Einschätzungen zu den beabsichtigten Wirkungen auf die Jugendlichen gibt es kaum.
Von Insa van den Berg
Dass Aussteiger seit mehr als zwanzig Jahren an Schulen referieren, ohne dass der präventive Nutzen belegt ist, hat die Kriminologin Maria Walsh und die Soziologin Antje Gansewig herausgefordert. Die Wissenschaftlerinnen haben im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Nationalen Zentrum für Kriminalprävention und dem Landespräventionsrat Schleswig-Holstein untersucht, welchen Eindruck Aussteigervorträge bei den Jugendlichen hinterlassen. Lehrer glaubten bisher an den Erfolg: Solche Veranstaltungen seien viel eindrücklicher und abschreckender als klassischer Unterricht. Tatsächlich empfinden Jugendliche die Schilderungen als „krass“ oder „wie im Film“, haben die Forscherinnen dokumentiert. Aber: Einen positiven Einfluss auf Einstellungen und Gewaltbereitschaft der Schüler konnten sie nicht belegen.
In ihrer Studie „Biographiebasierte Maßnahmen in der schulischen Präventions- und Bildungsarbeit“ weisen Gansewig und Walsh auf weitere Probleme hin. Etwa die Hälfte der 490 befragten Schüler gab an, vor dem Aussteigervortrag nichts über Rechtsextremismus gewusst zu haben. Offenbar hatte das Thema im Unterricht also bisher keine Rolle gespielt. Fast zwei Drittel meinten, die Veranstaltung sei in der Klasse inhaltlich nicht vorbereitet worden. Demnach ahnten die Jugendlichen im Vorfeld offenbar nicht, was genau sie erwartete.
Weil sie einen ehemaligen Nazi sehr genau von Schlägereien und Hass haben reden hören, gaben 80 Schüler an, sich „unwohl gefühlt zu haben“. Detaillierte Beschreibungen von Gewalt während verpflichtender Schulveranstaltungen halten die Wissenschaftlerinnen wegen geltenden Kinder- und Jugendschutzbestimmungen für „fragwürdig“. Psychotherapeut Harald Weilnböck, Mitglied des europäischen Experts on Extremism Network, warnt vor seelischen Beeinträchtigungen der Schüler. Es bestehe zum Beispiel die Gefahr einer Retraumatisierung von gewalterfahrenen Schülern. Denn unter den Zuhörern könnten Opfer von Rechtsextremismus sein. Außerdem könne ein Vortrag auch faszinieren und dem präventiven Ziel damit vollständig zuwiderlaufen, warnt die Soziologin Ricarda Milke.
Die Voraussetzung für Aussteigervorträge an Schulen ist laut Tobias Lehmeier, dass sie in ein gutes Präventionskonzept eingebettet sind. Der Projektkoordinator der Bundesarbeitsgemeinschaft Ausstieg zum Einstieg, dem Dachverband zivilgesellschaftlicher Akteure der Ausstiegs- und Distanzierungshilfe aus extrem rechten Zusammenhängen, sagt: „Mein Eindruck ist aber, dass es dafür gelegentlich wenig Ressourcen an den Schulen gibt.“
Sinnvoll könnten derartige Vorträge jedoch nur sein, wenn sie intensiv vor- und nachbereitet werden. Es müsse Fachwissen vermittelt werden und nicht nur eine persönliche Geschichte. „Aussteiger sind vor allem Experten ihrer eigenen Biografie und nicht zwangsläufig Experten für Rechtsextremismus.“ Die Lehrer sollten sich im Vorfeld ausführlich über den Referenten informieren. Fragen könnten sein, wie weit der Aussteiger im Reflexionsprozess sei, wie gewaltreich er sich ausdrücke, wie sehr die Person sich profilieren wollen und ob finanzielle Anreize eine Rolle spielen.
Den Wissenschaftlerinnen Walsh und Gansewig zufolge fehlt es an Transparenz bei derartigen Angeboten. Oft sind Informationen zu Qualitätssicherung, Methoden, Dauer oder Kosten des Vortrags nicht öffentlich zugänglich. Das erschwere den Lehrern ein kritisches Hinterfragen. Die Forscherinnen haben Handlungsempfehlungen formuliert, die den Schulen die Entscheidung erleichtern sollen und dabei die Bedürfnisse der Jugendlichen berücksichtigen. „Wir haben großen Respekt vor Aussteigern“, sagen Gansewig und Walsh. „Aber wir wollen die Öffentlichkeit und insbesondere Lehrer für einen reflektierten Umgang mit solchen Veranstaltungen an Schulen sensibilisieren.“ Nicht jeder Aussteiger sei als Referent für alle gleichermaßen geeignet, stellen die beiden heraus. Man müsse unterscheiden zwischen den Zielgruppen: Was Schülern möglicherweise schaden kann, könne Studierenden oder Fachpersonal nützen.
Lübecker Nachrichten, 2. September 2020
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