Interview: Wie solidarisch sind wir in der Pandemie?
Im Interview spricht die Politikwissenschaftlerin Professorin Marianne Kneuer von der TU Dresden darüber, wie es um den Gemeinschaftssinn während der Corona-Krise steht
Von Insa van den Berg
Das GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und die Professorin Dr. Marianne Kneuer von der Technischen Universität Dresden haben im Projekt „Safe-19 – Solidarität in der Covid-19-Krise“ Meinungsumfragen und Beiträge auf der Online-Kommunikationsplattform Twitter analysiert. Über die Ergebnisse, die Frage, ob die Solidarität im Verlauf der Pandemie abgenommen hat und welche Rolle die Politik dabei spielt.
Frau Prof. Kneuer, hat unsere Gesellschaft im Hinblick auf solidarisches Handeln versagt?
Der Blick auf die Zahl der Ungeimpften in Deutschland ist überaus besorgniserregend und sogar frustrierend. Wenn wir uns mit Portugal vergleichen, wo etwa 98 Prozent der Bevölkerung über zwölf Jahren geimpft sind, dann ist das eine Riesen-Schere. Dennoch kann man nicht sagen, dass unsere Gesellschaft in Bezug auf Solidarität versagt hat. Zumindest lässt sich das durch unsere Studie nicht belegen.
Woran machen Sie das fest?
Wir haben vom August 2020 bis April 2021 drei Befragungswellen unternommen, bei denen zwischen 68 und 70 Prozent der Befragten sagen: Solidarität ist jetzt so wichtig wie zu Beginn der Pandemie. Die Zustimmung zu dieser Aussage hat im zeitlichen Verlauf sogar leicht zugenommen. Das wichtigste Motiv beim Maskentragen war der Schutz Anderer. Und auch dies hat sich verstärkt: Von 68 auf über 80 Prozent. Das weist darauf hin, dass der Mehrheit der Menschen durchaus bewusst ist, dass in der Corona-Pandemie Solidarität notwendig ist und die Mehrheit auch solidarisch gehandelt hat.
Familien mit Klein- oder Schulkindern sehen sich als besonders leidtragend.
Familien sind von Anfang an durch Schul- oder Kitaschließungen besonders belastet gewesen. Sie befürchten zum Beispiel, dass ihre Kinder Bildungsnachteile haben. Diese Sorgen können dazu führen, dass Eltern unzufrieden sind mit bestimmten Maßnahmen der Regierung. Aber das muss man sehr genau trennen von der Einstellung, dass Solidarität wichtig ist. Je stärker ich der Regierung vertraue als Bürger:in, desto eher bin ich bereit, Maßnahmen zu befolgen.
Einige schimpfen auch auf ihre Mitmenschen. Weil sie geimpft sind, träfen sich zum Beispiel Senior:innen regelmäßig in größeren Gruppen wie im Verein. Sie sollten nicht alle Freiheiten ausreizen.
Ich weiß gar nicht, ob diese Aussage wirklich eine Position ist, die man findet.
Warum spiegelt sich in der öffentlichen Wahrnehmung nicht wider, dass die Mehrheit die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie stützt?
Die große Mehrheit ist eine stille Mehrheit. Was wir jedoch immer vor uns haben, sind die Bilder von einer lauten Minderheit, die sich mit teils gewalttätigen Demonstrationen und Beschimpfungen sichtbar macht. Wir wissen aber, dass seit Beginn der Pandemie drei Viertel der deutschen Bundesbürger:innen die Maßnahmen für angemessen halten oder sogar noch weitere Regeln befürworten würden.
Wie zeigt sich denn – neben Maskentragen und Impfschutz – in der Corona-Pandemie anschaulich, dass Menschen solidarisch sind?
Es gab eine große Vielfalt von solidarischen Aktionen. Das fing mit der Nachbarschaftshilfe an, dass für Menschen in Quarantäne eingekauft wurde. Andere Aktionen richteten sich an Künstler:innen in Form von finanzieller Hilfe.
Sie haben das in der Vergangenheitsform formuliert.
Am stärksten war das während des Lockdowns, weil unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen geändert. Problematisch könnte seit dem Sommer der Eindruck Einiger sein, dass man wegen der Lockerungen gefühlt zur Normalität zurückkehre. Aus meiner Sicht ist nicht zielführend gewesen, dass etliche Politiker:innen dieses Gefühl geschürt haben.
Der Soziologe Stephan Lessenich meint, solidarisches Handeln müsse aus der Gesellschaft herauskommen. Was meinen Sie: Kann man Solidarität verordnen?
Die Politik kann sie nicht verordnen, aber daran appellieren. Der internationale Vergleich zeigt, dass bis zum Herbst 2021 Regierungen in der Corona-Krise erfolgreicher waren, die auf Solidaritätsappelle gesetzt haben. Dazu gehört die deutsche Bundesregierung. Diese Kommunikation war wirksamer als eine Kriegsrhetorik, wie sie in Frankreich, Großbritannien, Amerika benutzt wurde.
Also vertraut die Bevölkerung der deutschen Bundesregierung während der Corona-Krise?
Wir haben nach Vertrauen in 13 unterschiedliche Institutionen gefragt: Bundesregierung, Parteien, das Parlament, Robert-Koch-Institut, Wissenschaft, Gewerkschaften, Kirchen. Die Bundesregierung hat regelmäßig die höchsten Werte bekommen. Selbst im Januar, Februar 2021 bei den Beschwerden über fehlenden Impfstoff war das Vertrauen in die Regierung sehr hoch, vor allem in die Bundeskanzlerin.
Inwieweit gehört zu einer solidarischen Gesellschaft auch eine Impfpflicht?
Eine Impfpflicht wäre quasi verordnete Solidarität. Dabei folgt niemand mehr Appellen, sondern einer Vorschrift. Für eine Entscheidung, inwiefern eine Impfpflicht sinnvoll ist oder effizient sein kann, empfehle ich noch einmal den internationalen Blick. In etlichen Ländern gibt es bereits gruppenspezifische Impfpflichten oder sogar für alle Arbeitnehmer:innen. Wir führen in Deutschland sehr spezifische Debatten – auch schon bei der Masernimpfung. Dazu gab es ebenfalls eine hitzige Diskussion. Das scheint eine deutsche Besonderheit zu sein. Wir debattieren über etwas, was in anderen Ländern schlichtweg beschlossen wird.
Was motiviert Menschen, solidarisch zu sein?
Neben dem Wunsch, andere zu schützen, orientiert sich Solidarität in Krisen sehr stark an der Risikowahrnehmung: Je höher ich das Risiko sowohl für mich als auch für die Gesellschaft einschätze, desto eher bin ich bereit, einen Beitrag zu leisten zur Bekämpfung der Krise.
Apotheken Umschau, 7. Dezember 2021
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Inzidenz 1.362,4 im Erzgebirge
Wo besonders viele Ungeimpfte leben, werden besonders viele krank. Doch hinter den Zahlen tobt das Leben
Von Insa van den Berg
Und wieder schafft es eine Zahl aus Sachsen in die bundesweiten Nachrichten: Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge wurde Anfang dieser Woche eine Inzidenz von 1.362,4 gemeldet. Auch die Zahl der Covid-Infizierten ist im Vergleich enorm hoch – die Zahl der Geimpften hingegen extrem gering. Jedes vierte Intensivstationsbett wird von Covid-19-Patient:innen belegt. Das bedeutet: Kliniken sind überlastet. Operationen werden verschoben.
Hinter diesen Zahlen geht das Leben weiter. Tourist:innen strömen wieder in die großen Städte, erzählt ein Taxifahrer in Leipzig – erleichtert. Eine Trennwand gibt es in seinem Wagen nicht: „Das Virus passt allemal dran vorbei.“ Seit dem 8. November gilt die 2G-Regel; in Restaurants dürfen lediglich Geimpfte und Genesene. In öffentlichen Verkehrsmitteln sollen FFP2-Masken getragen werden. Fahrgäste nutzen lieber die OP-Masken. Manches Mal knapp die Oberlippe bedeckend.
Am Waffelstand in der Provinz legt die Verkäuferin die Hände zusammen und dankt: „Sie sind heute die Ersten, die eine Maske tragen!“ Geöffnet hat die Bude seit fünf Stunden. Hungrige stehen Schlange. In persönlichen Gesprächen geht es um Ängste. Und um Vorwürfe: Es gebe zu wenige Informationen zur Verlässlichkeit und zum Nutzen der Coronaimpfung. Und überhaupt, „man wird unter Druck gesetzt, sich impfen zu lassen“. Dabei sei das doch eine persönliche Entscheidung.
Die Zahlen aus Sachsen stehen schwarz auf weiß, aber für das Infektionsgeschehen und die polarisierte Gesellschaft gibt es nicht nur eine Erklärung. Sie setzt sich zusammen aus Erfahrungen und Lebensumständen. Eine feurige Melange.
Es gibt die Wut auf „die da oben“, einen Vertrauensverlust in die – nun ja – abwechslungsreiche Politik der schwarz-rotgrünen Landesregierung. Einerseits war Sachsen Vorreiter im Mahnend-den-Zeigefinger-Heben, etwa beim 15-Kilometer-Bewegungsradius im Frühjahr 2020. Anderseits war Sachsen groß im Wir-wollen-unser-altes-Leben-zurück: Als im Sommer zeitweise die Maskenpflicht in Supermärkten fiel.
Es gibt die Haltung, die Regierung habe kein Recht, Lebensweisen aufzudrücken. Einige führen dafür das Aufwachsen in einem Unrechtsstaat an. Andere zeigen einen Zusammenhang zwischen Impfverweigerung und dem Wählen der AfD.
Es gibt Erklärungsansätze für ländliche Regionen wie die Sächsische Schweiz oder das Erzgebirge mit den höchsten Inzidenzen. Wessen Verwandte nur Straßenzüge entfernt leben, sieht sich offenbar als Schicksalsgemeinschaft. Man hockt eng beieinander: „Wir kennen uns schließlich.“ Und tatsächlich geht das Russisch-Roulette gelegentlich gut und niemand steckt sich an. Das verstärkt die Annahme, das Virus sei längst nicht so gefährlich wie behauptet. „Bisher habe ich es ja auch nicht gekriegt.“ Diese gefühlte Wahrheit verleiht die widersinnige Zuversicht, wir Menschen müssten unsterblich sein.
Es gibt kaum echte Einschränkungen im Alltag: Ob geimpft, genesen – eines wird schon zutreffen. Dass in Sachsen Nachweise kontrolliert werden, ist selten. Dass Nachweise wirklich geprüft werden, also etwa zusammen mit einem Personalausweis vorgezeigt werden müssen, hat beinahe Lottogewinn-Seltenheit.
Aber: Nur sächsischen Impfverweigerern die Schuld in die Schuhe zu schieben, wäre der zweifelhaften Ehre zu viel. So besonders, so anders, so alleinstellungsmerkmalig ist der Freistaat dann doch wieder nicht. Die vierte Coronawelle rauscht auch anderswo. In Bayern zetern die Coronakritiker:innen ebenso. Auch in Nordrhein-Westfalen muss sich erklären, wer vorsichtig bleibt. Überall gibt es Menschen, die sich Informationen über Virus und Krankheit verweigern, weil sie sich nicht belasten oder sorgen wollen.
Unser größtes Problem ist länderübergreifend – unsere Unvernunft. Wir wissen oft, was gut wäre, entscheiden uns dennoch dagegen. Wir verschließen die Augen vor der Zukunft, um im Hier und Jetzt Spaß zu haben – oder wenigstens: weniger Verzicht –, statt uns für eine mittelfristig bessere Lösung zu entscheiden. Das gilt nicht nur für Ungeimpfte. Die fehlende Motivation, sich im Interesse von Kindern und Pflegenden einzuschränken, zeigt sich auch bei Geimpften: in ihrer Ignoranz, dass auch sie das Virus weitertragen.
Schlau werden wir Menschen erst aus Erfahrung, heißt es. Viele kennen angeblich keine Covid-19-Opfer. Zumindest daran werden die kommenden Wochen etwas ändern, leider. Nicht nur in Sachsen.
der Freitag, 18. November 2021
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Miete zahlen trotz „null Einnahmen“: Die Corona-Krise bringt Solo-Selbstständige an den Rand ihrer Existenz
Trotz staatlicher Hilfen kämpfen Solo-Selbstständige weiterhin um ihre Existenz. Vor allem die Kultur- und Veranstaltungsbranche trifft die Pandemie hart. Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll.
Von Insa van den Berg
Die selbstständige Fotografin Mareen Rüegg aus Cottbus hatte in den ersten beiden Monaten 2021 „null Einnahmen“. Genau wie zu Beginn der Corona-Pandemie vor gut einem Jahr. Damals machte sie sich Sorgen, weil sie die Miete für ihr Studio weiter tragen musste, ohne etwas zu verdienen. Durch Umsatzausfälle in der Corona-Krise haben laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) viele Selbstständige ihre Einkommensgrundlage teilweise oder sogar vollständig verloren. Rund 60 Prozent unter ihnen hatten Einkommensverluste. Bei den abhängig Beschäftigten traf es etwa 15 Prozent.
Allein das Einkommen ihres Mannes reiche nicht für die Familie, sagt Mareen Rüegg. Die Krankenkasse nehme außerdem Zinsen für gestundete Beiträge. Aber es gibt auch Hoffnung. Im Sommer seien ihre Geschäfte einigermaßen gelaufen. Auch das Weihnachtsgeschäft sei verhältnismäßig gut gewesen. Außerdem habe sie zum Ausgleich für corona-bedingte Verluste Unterstützung vom Staat bekommen. Und ihr Vermieter habe ihr eine Monatsmiete erlassen.
Besonders gebeutelt von der Corona-Krise sind Selbstständige in der Veranstaltungsbranche. Sie hatten aufgrund von Veranstaltungsverboten hohe Umsatzausfälle. „Ihnen wurde die Berufsausübung zum Schutz unser aller Gesundheit verboten“, erklärt der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD). Viele Betroffene hätten wegen der Verdienstausfälle auf Rücklagenbildung für das Alter verzichtet. Für 2021 erwartet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dass etwa 150.000 Selbstständige aufgeben werden.
Veranstaltungstechniker Thorsten Meyer ist verzweifelt: Weil er Immobilien besitzt, bekomme er vom Staat keine Grundsicherung. Schon vor einem Jahr sagte er: „Das System fliegt mir um die Ohren.“ Inzwischen hat er den Kampf um die Grundsicherung aufgegeben. Also leben seine Frau und er von den Mieteinnahmen, von denen er als Selbstständiger noch die Krankenkassenbeiträge bezahlen müsse. Unterm Strich bleiben 500 Euro monatlich. „Auch seelisch ist das alles so aufreibend.“ Er fühle sich gelegentlich mürbe gemacht. „Mir fehlt die Perspektive.“
Lichtoperator Gordon L’Habitant hingegen hat Glück gehabt, wie er sagt. Zu Beginn der Pandemie hatte er gegrübelt, wie er die Erstausstattung für sein Baby bezahlen soll. Mit einer geringfügigen Beschäftigung in einem Baumarkt und dem Kurzarbeitergeld seiner Frau seien sie zunächst bis zum Sommer ganz gut durchgekommen. Aufgrund seines Engagements bei der „Night of Light“ im Juni 2020 – einer bundesweiten Aktion, mit der die Veranstaltungsbranche auf ihre finanzielle Notlage durch die Corona-Pandemie aufmerksam gemacht hat, – habe er zeitweise Arbeit in Bad Vilbel bei der Corona-Edition der Burgfestspiele gefunden. Im November kam dann seine Tochter zur Welt. „Ich habe in meinem eigentlichen Beruf sechs Monate lang keine Einnahmen erzielt, aber ich fühle mich sehr unterstützt von vielen Seiten: vom Staat, von Kunden und von meiner Familie“, sagt er.
„In der Kunstszene haben sich viele gerettet, indem sie anderweitig Geld verdienten“, bilanziert Astrid Vehstedt von der deutschen Schriftstellervereinigung P.E.N. das Krisenjahr. Die Kulturlandschaft werde langfristig mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen haben, glaubt sie. Vehstedt befürchtet, dass etliche Einrichtungen die finanziellen Einbußen nicht überleben werden.
Evangelischer Pressedienst, 31. März 2021
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Plötzlich digital arbeiten? Ältere lernen das nicht schlechter, aber anders
Viele Berufstätige müssen heutzutage ständig etwas dazulernen. Lehrer zum Beispiel mussten sich seit Beginn der Corona-Pandemie mit technischen Fragen auseinandersetzen, um online unterrichten zu können. Für Ältere sei Lernen besonders schwierig, besagt ein Sprichwort. Aber stimmt das?
Von Insa van den Berg
Viele Lehrerinnen und Lehrer hätten sich gut auf die Onlinelehre umstellen und die dafür nötige Technik erlernen können, meint Bildungsforscherin Prof. Anne Sliwka von der Universität Heidelberg. Wenngleich der Eindruck mancher Eltern ein anderer ist: Sie habe als Jurymitglied des „Deutschen Schulpreis spezial“ viele neue und gute Konzepte gesehen, die Schulen im Umfang mit der Corona-Krise entwickelt haben.
Ihrer Einschätzung nach „haben sich Lehrerkräfte verschiedener Generationen untereinander unterstützt und voneinander gelernt“. Sich beruflich fortzubilden gehört auch in anderen Professionen dazu – unabhängig von Pandemien. „Dabei spielt das kalendarische Alter für den Lernerfolg keine Rolle“, sagt Christiane Hof, Professorin für Erwachsenenbildung an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Grundsätzlich könne man im Alter von 60 genauso gut etwas Neues lernen wie mit 20 Jahren, meint Wissenschaftlerin Hof. Bestimmte Fähigkeiten nehmen im Alter zwar ab. Es sind biologische Abbauprozesse und sie betreffen zum Beispiel Muskelkraft, das Seh- und Hörvermögen. Auch das Gedächtnis wird störanfälliger und das Gehirn weniger durchblutet. Die Lernfähigkeit bleibe jedoch mit steigendem Alter erhalten. Das Urteilsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit nehmen sogar zu, zeigen Studien.
Wir lernen mit zunehmendem Alter nicht schlechter, aber anders. Karin Harnack ist pensionierte Mittelschullehrerin, unterrichtet Seniorinnen und Senioren an der Volkshochschule Dresden in Englisch. „Es dauert etwas länger und wir gehen kleinschrittiger vor, um zum Beispiel neue Vokabeln zu lernen. Ältere brauchen außerdem viele Wiederholungen.“ Die 65-Jährige lernt selbst gerade Französisch und kann sich deshalb in die Rolle ihrer erwachsenen Schüler hineinversetzen. „Viele haben Angst zu versagen, etwas falsch zu machen.“
Das sei ein Unterschied zu den Jugendlichen, die sie früher unterrichtet hat. Mit viel Lob und Spaß beim Lernen versuche sie, Hemmungen abzubauen. Wie auch Claudia Haase aus Hannover: Sie lehrt seit mehr als 30 Jahren Italienisch „und bei mir gibt es immer was zu lachen. Das ist für viele eine Motivation für den Kurs.“ Sie hat bemerkt, dass ältere Teilnehmende im Vergleich zu Jüngeren oftmals ehrgeiziger und beständiger beim Lernen sind.
Früher ging es in der Schule oft darum, auswendig zu lernen. „Ältere haben deshalb oft keine systematische Lerntechnik“, erklärt die Psychologin Prof. Una Röhr-Sendlmeier von der Universität Bonn. Dazu gehört beispielsweise das inhaltliche Zusammenfassen von gelesenen Absätzen. „Solche Techniken können wir aber auch im fortgeschrittenen Alter noch erlernen und trainieren.“
Während Jugendliche beim Lernen genauer seien, hinterfragen Erwachsene im Vergleich stärker. „Für Ältere rückt die Sinnfrage eines Lernvorhabens in den Mittelpunkt, weil für das Lernen vielleicht Gewohnheiten aufgegeben werden müssen“, sagt Röhr-Sendlmeier. „Das Lernziel muss die damit verbundene Anstrengung wert sein.“ Einen großen Vorzug beim Lernen im Alter sieht sie darin, dass wegen der größeren Lebenserfahrung neue Erkenntnisse mit schon bestehenden verknüpft werden könne. „Das fördert den Erwerb neuen Wissens enorm.“
Wenn es trotzdem schwerfällt, etwas Neues zu begreifen, kann das andere Ursachen haben: „Wer nicht gewohnt ist zu lernen, hat eher Schwierigkeiten“, erklärt Psychologin Röhr-Sendlmeier. Leichter ist es hingegen für jene mit höherem Schulabschluss oder regelmäßiger Weiterbildung und einem Beruf, der täglich Neues abverlangt. Wer sozial und kulturell aktiv sei, sei ebenso im Vorteil. „Auf den Erhalt der geistigen Funktionen hat eine insgesamt aktive und engagierte Lebensführung einen positiven Einfluss. Auch die körperliche Fitness ist bedeutsam.“ Wer sich unwohl fühle, könne sich schlechter konzentrieren. Auch Vorbehalte können beim Lernen blockieren. „Wenn ich davon überzeugt bin, dass ich das nicht mehr lernen kann, dann wird es damit auch schwerer.“ Das Interesse am Thema hingegen beflügele.
Nach der aktuellen Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Weiterbildungsverhalten in Deutschland haben sich 2018 mehr als 28 Millionen Menschen im Rahmen eines Programms neues Wissen angeeignet.
Redaktionsnetzwerk Deutschland, 21. März 2021
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Muss die Klinik sich gesundstoßen?
Trotz Corona schließen immer mehr kleine Krankenhäuser. Weil sie sich nicht rentieren
Von Insa van den Berg
Das Krankenhaus in Ingelheim war praktisch voll“, sagt Seelsorgerin Sylvia Winterberg. Die Klinik in Rheinland-Pfalz hatte im März 2020 wegen der Covid-19-Pandemie 40 zusätzliche Intensivplätze bekommen. Dass das Krankenhaus am Ende des Jahres trotzdem geschlossen wurde, stieß bei vielen in der Stadt auf Unverständnis. Die Pfarrerin hörte von Menschen, die sich deshalb weigerten, stationär behandelt zu werden: „Sie haben dort weniger Komfort in Kauf genommen, weil sie sich persönlich besser behandelt fühlten.“ Trotz Vierbettzimmern hätten viele das Gefühl gehabt, in Ingelheim könne man gesunden. Nur für das Haus mit insgesamt 130 Betten selbst galt das offenbar nicht. Es sei unrentabel, hieß es immer wieder; nach einem ersten Insolvenzverfahren 2019 sprang zuerst ein Investor ab, dann auch die eigens gegründete städtische GmbH, die die Klinik aus der Insolvenz hätte führen sollen.
Neben Ingelheim kam das Aus 2020 auch für das Bergarbeiter-Krankenhaus im sächsischen Schneeberg, die Marienhausklinik St. Josef Losheim am See im Saarland und das Weingartener Krankenhaus 14 Nothelfer in Baden-Württemberg. Insgesamt traf es nach Angaben der Bundesländer im Corona-Jahr neun Krankenhäuser, vier wurden verlagert. In den meisten Fällen führten laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft wirtschaftliche Gründe zur Schließung.
Noch gibt es beim Statistischen Bundesamt keine Zahlen dazu, wie viele Krankenhausbetten 2020 weggefallen sind, die Daten werden frühestens im August 2021 veröffentlicht. Der Trend indes ist klar: In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der Betten um ein Viertel gesunken. Auch die Häuser werden weniger: 1991 gab es 2.411, 2018 waren es nur noch 1.925.
Vor allem kleinere Kliniken geben auf. Für sie ist es schwierig, kostendeckend zu arbeiten. Sie müssen – ebenso wie die großen – eine bestimmte Ausstattung unterhalten, deren Nutzung jedoch durch weniger Patienten finanziert wird. Hinzu kommt: Die überwiegend in den Kleinkrankenhäusern geleistete Grundversorgung wird schlechter vergütet als komplizierte Operationen in spezialisierten Kliniken.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung vom Sommer 2019 befand trotzdem, in Deutschland gebe es zu viele kleine Häuser. Denn diese verfügten oft nicht über die nötige Erfahrung, „um lebensbedrohliche Notfälle wie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall angemessen zu behandeln. Viele Komplikationen und Todesfälle ließen sich durch eine Konzentration auf deutlich unter 600 Kliniken vermeiden.“
An dieser Auffassung einiger Forscher ändert auch die Corona-Pandemie nichts. Der Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Prof. Ferdinand Gerlach, meint: „Die Pandemie hat erneut eindrucksvoll gezeigt, dass weniger manchmal mehr ist. Die Versorgung von Covid-19-Patienten wird vor allem in großen, leistungsfähigen Kliniken mit diagnostisch unverzichtbarer Computertomografie und spezialisierter Beatmungskompetenz auf Intensivstationen gestemmt.“ Rund 60 Prozent der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen hatten im Jahr 2020 in Unikliniken und bei großen „Schwerpunktversorgern“ gelegen, der Rest in Kleinkrankenhäusern.
Die Politik beratende Forscher haben im November ein „Richtungspapier zu mittel- und langfristigen Lehren“ aus der Corona-Krise vorgelegt. Prof. Boris Augurzky vom RWI –Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Essen hat daran mitgearbeitet. Für ihn ist die zentrale Frage, wie Deutschland „die stationären Kapazitäten auf die Fläche“ verteilt. „Viele kleine Einheiten mit relativ hohen Fixkosten oder mehr mittelgroße und große Einheiten mit dann in der Summe geringeren Fixkosten? Diese Frage hat mit Corona nicht viel zu tun.“
Laut Gesundheitsökonom Augurzky müsse die höchste Versorgungsqualität erbracht werden – und die Kosten bezahlbar sein. „Eine größere Schwerpunktbildung kann dies erreichen. Für manch eine kleine Klinik der Grundversorgung bedeutet das jedoch ihre Verlagerung in ein größeres Zentrum.“ Wichtig sei, dass Erkrankte trotzdem Zugang zu einer guten Basisversorgung in der Nähe ihres Wohnorts hätten. Das könne vielfach jedoch ambulant und damit kostengünstiger gewährleistet werden.
Dieses „Wahnsinns-Vorhaben“ bringt Carl Waßmuth vom Bündnis Klinikrettung auf. Vor allem für Menschen in ländlichen Regionen breche mit jeder geschlossenen Notaufnahme eine erreichbare Notfallversorgung weg. „Auf den Dörfern ist die Unterversorgung jetzt schon augenfällig.“ Schließende Kliniken führten zu Versorgungsproblemen, im Zweifel zum Tod von Menschen. „Manche begründen die Schließung mit einer zu geringen Auslastung. Aber das sind Durchschnittswerte. Wir müssen die Stoßzeiten im Herbst und Winter berücksichtigen, wenn alle Betten belegt sind. Und wir dürfen nicht vernachlässigen, dass einige Abteilungen weniger Patienten haben als wiederum andere.“ Für den Ingenieur Waßmuth ist offensichtlich: „Einige sehen Gesundheitsfürsorge offenbar als Markt.“
Kliniken seien „Einrichtungen der Daseinsvorsorge und keine Industriebetriebe, die sich ausschließlich an Rentabilitätszahlen ausrichten“, steht auch in dem Zehn-Punkte-Papier zu den Lehren aus der Corona-Krise, das die Bundesärztekammer im August 2020 vorlegte. Krankenhäuser müssten den Patienten dienen, nicht dem Profit.
Anke Görtz hat gut 20 Jahre im Krankenhaus Havelberg der Klinikgruppe KMG in Sachsen-Anhalt gearbeitet. Mit ihrem „Traumjob“ als Röntgenassistentin war im September 2020 Schluss. „Das haben wir auch wegen Corona kaum glauben können.“ Der private Träger stellte den Betrieb ein: Die Einrichtung sei von den Menschen der Region nicht mehr in Anspruch genommen worden. Deshalb wolle man das Haus in ein Pflegeheim umwandeln.
KMG betreibt in 30 Kilometer Entfernung eine weitere Klinik in Brandenburg. Die zählt nun zu den Alternativen, die die gut 6.000 Einwohner von Havelberg und 20.000 Menschen aus dem Einzugsgebiet im Notfall ansteuern müssen. „Man fährt mit dem Auto etwa 40 Minuten dorthin oder ruft einen der beiden Rettungswagen. Mit öffentlichem Personennahverkehr wird das nichts.“ Deshalb will Anke Görtz vorerst nicht aufgeben: Mit dem Verein Pro Krankenhaus Havelberg engagiert sie sich ehrenamtlich für eine Rettungsstelle vor Ort.
Pflegewissenschaftlerin Prof. Gabriele Meyer von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg weiß: „Vorschläge zu einer umfassenden Strukturreform des Krankenhauswesens stoßen nicht zwangsläufig auf Gegenliebe bei Pflegefachpersonen. Zu groß ist die Enttäuschung über die vielen Pseudoinnovationen, Reformen und Verschlimmbesserungen der letzten Jahre.“ Ziel eines anderen Krankenhauswesens sei es jedoch, Patienten passender zu behandeln, mit besseren Ergebnissen in dafür ausgewiesenen Zentren. Meyer ist der Auffassung, damit ließe sich die „betriebswirtschaftlich motivierte Mengenausweitung der Behandlungen eindämmen. Fachärzte und Pflegefachpersonen können gezielter eingesetzt und aus dem Hamsterrad geholt werden.“
Viele ehemalige Kollegen aus dem Havelberger Krankenhaus haben inzwischen beruflich auf andere Branchen umgesattelt. Röntgenassistentin Anke Görtz überlegt, künftig als Bürokauffrau zu arbeiten.
Freitag, 25. Februar 2021
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